Johannes und die 'Geier des Nordens'

Heute war Johannes selten alleine. Egal ob er sich in den spärlichen Sonnenstrahlen badete oder sich mit einem Futterstück beschäftigte, immer waren sie da. Und sie kamen nie alleine.

Die Rede ist vom Kolkraben, dem in Europa mit Abstand grössten Rabenvogel.

Der bussardgrosse Vogel mit mächtigem Schnabel lebt in Paaren. Findet er aber eine gute Nahrungsquelle, tritt er auch schwarmweise auf. Und genau dies hat Junggeier Johannes heute wiederholt erlebt: kaum war er bei einem grossen Futterstück gelandet, flogen sie ein, einer nach dem anderen. Im Nu war Johannes ‚umzingelt’ von bis zu 13 Kolkraben. Johannes flatterte zwar wiederholt auf, entfaltete seine grossen Flügel, schnappte nach den Kolkraben. Diese liessen sich jedoch sichtlich nicht beirren und schnappten Johannes erfolgreich ein Futterstück nach dem anderen unter dem Schnabel weg (zur Beruhigung: für Johannes blieb noch eine beträchtliche Futtermenge).

Kolkraben sind Allesfresser. Sie nehmen Kleinsäuger, Insekten, Reptilien, Amphibien, das eine oder andere Vogelei und Jungvögelchen, Nüsse, Früchte, Beeren. Und sie fressen - wie Geier - Aas. Weswegen Kolkraben früher in Städten und Siedlungen eine ähnliche Rolle wie Geier spielten: als ‚biologische Gesundheitspolizisten’ entfernten sie innert kurzer Zeit Tierkadaver und halfen so, mögliche Krankheitsherden zu eliminieren. So wurden Kolkraben denn auch ‚Geier des Nordens’ genannt und genossen einen ähnlich zweifelhaften und unbegründet schlechten Ruf wie heute noch die Geier in vielen Weltregionen.

Was der Kolkrabe – abgesehen vom Fressen von Aas - mit dem Bartgeier gemeinsam hat: auch er wurde früher zu Unrecht als Lämmerjäger verschrien und erbarmungslos verfolgt. Beinahe wäre er zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz ausgestorben. Im Gegensatz zum Bartgeier aber überlebten einige Kolkraben und wuchs der Bestand ohne menschliche Hilfe ab 1940 wieder langsam an. Heute wird ihr Bestand in der Schweiz auf rund 1500 bis 2500 Brutpaare geschätzt, und einige Paare brüten gar wieder in Städten, wie z.B. in Bern oder in Zürich.